Vom homo sapiens zum homo urbis

6. Das Zusammenleben

Es ist eine logische Folge, dass eine Megacity mit bis zu 35 Mio Einwohnern eine andere Sozietät formt als ein Kleinstaat mit um 8 Mio Bürgern. Die Konzentration alles Lebens in eine von Menschenhand erfundene und gestaltete Umwelt erfordert eine strengere Organisation bis zur Überwachung des Geschehens als auf dem offenen Land. Der weltweite Trend der Verstädterung hat gravierende Folgen in Bezug auf das menschliche Leben, seinem Lauf von der Geburt bis zum Tod und verändert somit auch die Entwicklung des Individuums. Es kommt schneller zu sozialen Spannungen mit deutlichen Veränderungen der Werte in Ethik, Moral und dem zwischenmenschlichen Verhalten. Die Masse der Bewohner führt zu repräsentativen Vergleichsmöglichkeiten und somit unweigerlich zu Kritik. Kritik bringt Reglementierung mit vorgegebener Ordnung im Sinne der Mehrheit. Das moderne Korsett des täglichen Lebens wird immer enger geschnürt.

Damit hat die Politik einen wesentlich grösseren Stellenwert erhalten, wobei ihre Verflechtung als Sprachrohr des Volkes, aber auch als Macht erhaltendes Mittel rücksichtsloser Privatinteressen oftmals zu Fehlentscheiden führen. Nicht umsonst nennt man die tragenden Organisationen „Partei“. Je kleiner ihre Anzahl ist, desto weniger kann man die Entscheide als „demokratisch“ bezeichnen. Zurzeit wimmelt es auf Erden von autokratischen Beispielen.

Auch erfordert diese Konzentration von Tätigkeiten auf urbane Plätze eine durchorganisierte Ordnung, fördert somit den Beamtenstaat, aber auch eine Zunahme des staatlichen Dirigismus und der Rechtsprechung. Genügten einst zehn Gebote, benötigt man heute Bibliotheken, um ein einiger Massen geregeltes Funktionieren im Ameisenstaat zu gewährleisten. Denn es scheint ein eisernes Gebot zu sein, dass sich der heutige Individualist nur in einem streng geregelten Rahmen friedlich mit fremden Nachbarn auf die Dauer erträgt. Zudem ist erwiesen, dass das Leben in der Enge von Massen aggressiv macht. Durch die moderne, fremdartige Emigration um die Jahrtausendwende wurden zusätzlich Sitten und Bräuche neue Reibungsstellen, die bis nach dem zweiten Weltkrieg durch strikte Ablehnung durch die weisse Rasse unbekannt waren. Besonders in den Kolonien galten lediglich die europäischen Lehren als wahr. Durch Vermischung sind hier vor allem die Städte wegweisend in der Integration unterschiedlicher Kulturen.

Von entscheidender Bedeutung ist aber insbesondere die Ansiedlung von Markt, Geld, Produktion und Wissen in diesen Zentren. Bedeutende Städte wurden zur Universitätsstadt oder zu regionalen Marktplätzen. In der Zeit der industriellen Revolution und dem finanziellen Ruin des Bauernstandes, dem Aufkommen von Fabriken in den Randzonen grosser Städte, ermöglicht durch die Abkoppelung von der Wasserkraft durch Dampf- oder elektrisch betriebenen Maschinen, entstand eine neue Bevölkerungsschicht, das sogenannte Proletariat. Diese neue Klasse bestand aus verarmten Menschen, die nichts mehr besassen als ihre Arbeitskraft und diese gegen Entlöhnung einsetzen musste. Die alte Berufsordnung von Meister, Geselle und Lehrling, geregelt in der Zunftordnung der Innungen, wurde ersetzt durch die zahlenmässig wesentlich bedeutendere Gruppe der Arbeiter (in Anstellung). Neben den stetig wachsenden Dienstleistungen, insbesondere durch die Beamtenschaft, entstand so eine politisch wesentlich veränderte Arbeitswelt.

Aus dem neuen Selbstbewusstsein, geboren in den Elendsvierteln, den sogenannten Slums, die die einheimische, bürgerliche Gesellschaft mit bisher unbekannten Problemen des Zusammenlebens konfrontierte, bekamen die politischen Parteien ein neues Gesicht. Neben den Selbsthilfe-Organisationen, den Cooperativen formte sich mit der Partei des Sozialismus eine neue politische Kraft, die fortan mitentschied. Erst die maschinierte Massen-Produktion hat diese Gesellschaftsschicht geschaffen, die nicht mehr wegzudenken ist, sich aber bereits wieder verändert wird. Mit künstlicher Intelligenz und der Robotertechnik entsteht eine neue Gattung des „arbeitenden Volkes“. Eine vollkommen neue Gattung ohne Wohnbedarf, Verkehrsprobleme, Ferien- und Freizeitansprüche und soziale Wünsche. Der Garten Eden des Kapitalismus lockt am Horizont.

Mit künstlicher Intelligenz und der Entwicklung von Automaten sind vor allem die Lohnempfänger gefährdet, die regelmässige Arbeit mit Geschick erledigen können. Man vermutet, dass sogenannte „white collar worker“ und Berufe mit Bachelor-Abschluss den Einsatz von Algorithmen spüren werden. Dieser wirtschaftliche und politische Umsturz wird sich wiederum vor allem in den urbanen Agglomerationen abspielen, mit voraussichtlich durch die Konzentration der Probleme explosiven Folgen. Parallel dazu hat die Missachtung der natürlichen Grundlagen dieser Erde eine nun gefährlich gewordene Verschlechterung der klimatischen Kräfte erzeugt. Viele Megastädte an verkehrstechnisch besten Uferlagen werden durch den steigenden Meeresspiegel technische und finanzielle Sicherungsprobleme bekommen, deren Lösungen heute noch unterschätzt werden. Man sucht daher auch Lösungen von Bauten auf dem und auch unter dem Meeresspiegel. Megastädte als moderne Pfahlbauersiedlungen? Noch ist alles erst in Planung. Es könnte ein Rennen mit dem Untergang werden.

Das heute noch geführte schöne Leben in Wohlstand, Frieden und Freizeit hat sich in Wahrheit nicht erfüllt, ausser wiederum für eine kleine Machtelite. Noch immer glaubt anscheinend der Mensch, dass selbsternannter Adel im Besitze von Macht und Reichtum als Lebensziel erstrebenswert sei und somit edleres Blut in diesen Adern fliesse. Die Bewertung und die Massstäbe für die Stellung in der Gesellschaft basieren immer noch auf solch reinem Materialismus und die edlen moralisch ethischen Ziele der Nächstenliebe, die in der Stadt wie auf dem Lande identisch sind, warten weiter auf eine wahre Auferstehung.

Neben der praktischen Seite des Zusammenlebens hatte diese neue Art des sozialen Lebens in Ballungsgebieten auch ein anderes Verhältnis zur Natur zur Folge. Der direkte Kontakt verkümmert mit den neuen Gewohnheiten fast automatisch. Die Wucht und die Schrecken von Naturgewalten verlieren die Bedeutung einer direkten Bedrohung; dies kann jedermann selbst erfahren, wenn er auf dem Lande ein schweres Unwetter mit Sturm und Blitz oder das Gleiche in der Stadt erlebt. Allein schon die Konzentration von Bauten vermitteln ein Gefühl der Sicherheit. Eine ähnliche Idee ist der Schutz vor Räuberbanden und wilden Tieren. Jedoch hat sich die Kriminalität der Moderne gerade in den Städten zu neuen Formen entwickelt und hat globale Ausmasse erreicht.

Entscheidend für diese Veränderung ist die Distanz zu den Auswirkungen und Vorgaben der Natur. Der Mensch begann den Humus mit dem Beton, dem Asphalt und dem Ziegelstein zu tauschen. Gravierender jedoch ist die chemische Verseuchung der natürlichen Erde, um grössere Erträge zu erzielen. Heute kann man reines Quellwasser meistenorts nur in Plastikflaschen käuflich erwerben. Die durch die weltweite Überbevölkerung angeheizte Landflucht erzeugt eine immer krassere Distanz und damit ein neues Verständnis für die echte Natur. Für einen Stadtmenschen ist die freie Natur eher Erholungsgebiet. Es sollen bereits 70 % der Weltbevölkerung Städter geworden sein, ohne dass eine Änderung absehbar ist. Es wird weiter gebaut.

Es ist erschreckend, dass die Menschheit dermassen zusammengepfercht in künstlichen Gebilden lebt, vernetzt mit IT- gesteuerten Maschinen im Besitze von wenigen Superreichen und Mächtigen, mit Kunstwelten, zu sehen in Spezialbrillen und Computern und verpflichtet, durch Konsum die Arbeitswelt zu retten. Vor allem der Stadtmensch lebt immer stärker eingebunden in dieser technischen Kunstwelt und beginnt sich von einer natürlichen Lebensweise abzusetzen. Auftretende Fehler werden wieder durch technische Lösungen korrigiert. Wie hilflos man ist, wird uns zurzeit mit dem modischen Hype für den Umweltschutz krass vor Augen geführt, Demonstrationen und politisches Flickwerk ohne weltweite, koordinierte Gesamtplanung. Die naive Ahnungslosigkeit in der technisierten Stadt ist erschreckend und rührend zugleich. Es herrscht die Überzeugung, dass der Mensch es richten kann, wenn er nur will. Doch im Weltall herrschen mächtigere Kräfte. Eine weltweite Pandemie genügt, um das Gleichgewicht der globalen Ordnung ins Wanken zu bringen.