Vom homo sapiens zum homo urbis
8. Der urbane Mensch
Das über die Jahrtausende wirkende Bedürfnis des homo sapiens zu örtlichen Ballungsgebieten hat auf sein Leben und seinen Charakter entscheidenden Einfluss. Evolution in der Stadt ist ein total unterschiedliches Programm als in der freien Natur. Mit der Industrialisierung hat sich der neue Lebensstil noch deutlicher von einer natürlichen Entwicklung abgesetzt. Der urbane Mensch lebt und wirkt in einer durch ihn selbst erschaffenen Welt. Seine Sicht auf die Dinge ist daher sinngemäss „unnatürlich“ und befangen durch seine eigene Tätigkeit. Er sieht sein „Werk“ und nicht ein naturgegebenes Wachstum im Wandel der Jahreszeiten mit Geburt und Tod.
Sein Werk wächst vor allem durch wirtschaftlichen Erfolg und Rendite und mit mehr eigener Macht steigt sein eigener Wert. Seine Welt sind Geschäfte und gesellschaftlich der ich-bezogener Individualist. Ohne Zweifel gab es diese Art von Homo Sapiens seit jeher, doch in der Neuzeit und mit der Urbanisierung hat sich dieser Typus durchgesetzt. Denn der Mensch passt sich seiner Bezugswelt wie kein anderes Lebewesen an. Mit den Stadt-Bewohnern ist ein neuer Menschentypus entstanden, ein urbaner Mensch als vorläufige Krönung der Schöpfung. Noch ist in den meisten Ländern der Übergang zum Mega-Stadt-Bewohner gleitend. Kleinstädte, Vororte und historische Städte bilden noch einen grossen Anteil, doch immer mehr und grösser wird die Zahl der Menschen, die in anonymen Massen in nüchternen Gebäude-Ozeanen leben. Der Geist und die Erfahrung dieser neuen Höhlenbewohner werden das Leben prägen.
Der Mensch wird immer stärker ein „künstliches“ Wesen mit naturfremden Eigenheiten. Ja die Forschung ist im Begriff, diese zu fördern. Künstliche Glieder, künstliche Organe, künstliche Intelligenz, künstliches Essen und was alles noch ersetzte werden kann. Spiele als Einkommens- und Arbeitsersatz. Normales Wissen und seine verstandesmässige Auswertung ist ungenügend und werden als Entscheidungsträger durch Algorithmen ersetzt. Dazu werden persönliche Daten mittels neuer Produkte als Nebenprodukt gesammelt. Der Überwachungsstaat ist in China bereits Realität. Einige private Riesenfirmen in Amerika und China sind ebenso erfolgreich im Sammeln von Daten und steuern den Markt. In einer technisierten Welt geht jede echte Demokratie verloren, denn gegen die Macht des Geldes haben weder die Forscher noch die Politiker einen Weg gefunden.
Der Städter hat weitgehend die spontane Liebe zur Natur und der Schöpfung verloren. Er sieht die Natur vielmehr als „Mittel zum Zweck“. Selbst die in Mode gekommene „grüne Denkweise“ wirkt verdächtig nach Markt-Steuerung. Neue, industrielle Produkte, neue Ernährungstheorien dienen vor allem der Markt-Belebung War noch vor knapp 200 Jahren die Mehrheit der Europäer und Amerikaner froh, eine tägliche warme Mahlzeit zu erhalten, rügt man heute eine kopflose Wegwerf-Gesellschaft. Die künstliche Meinungsbildung hat in wenigen Generationen vergessen lassen, dass es kaum 4 Generationen her sind, seit auch im Westen arme Leute verhungerten.
Doch auch jetzt ist die Lage in Wahrheit prekär, denn alle Staaten sind bis über die Ohren verschuldet, die Währungen ungedeckt und der Konsum künstlich aufgeblasen. Die diskrete Steuerung über Reklame und sogenannte Zusatz-Informationen ist auf einer Stufe der Perfektion angelangt, die in dieser Konsum- und Wohlstandsgesellschaft gar nicht mehr als Steuerung erkannt wird. Die Bearbeitung durch Handy und Multimedia ist weitgehend total und wird leichtfertig akzeptiert. Wie sollte ein Konsument erfassen, der mit Biogemüse als Vegetarier oder Veganer aufgewachsen ist, was ein Hungergefühl als fundamentaler Erhaltungstrieb bedeuten kann? Wenn in der Not der Hungernde alles frisst, was noch essbar sein könnte, selbst Abfall? Es ist unbestreitbar, dass sich weltweit und trotz stetig wachsender Übervölkerung die Ernährungslage ganz wesentlich verbessert hat. Vermutlich gäbe es mehr als genug Nahrung für alle, wäre nicht alles eine Marktfrage geworden.
Ohne eine Rendite engagiert sich heute kein Kapital, das immer als Treibstoff benötigt wird. Nur eine Krise kann Korrektur bringen. Die in Mode gekommene Protestform der Demonstrationen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht ein tiefes Naturverständnis ist, das die Demonstranten antreibt und vereint. Selbst jugendliche Teilnehmer rufen kaum: Rettet die Natur! - sondern: Ihr zerstört unsere Zukunft! Zitat: “Ihr Habt meine Jugend zerstört!“ Doch es sind nicht Notkinder aus Krisenländern, die aufbegehren, sondern konsumgewohnte, wohlbehütete Demonstranten. Doch im Gegensatz zu den Erwachsenen sind sie tatsächlich die Leidtragenden der Zukunft.
Spätestens bei Beschlussfassung nach Weltkonferenzen mit Vorgaben für das weitere Verhalten zeigt sich das wahre Verständnis der Lage. Es endet meist, wie alle Verbesserungen, mit Absichtserklärungen und Zielsetzungen, mit der Finanzierungs- und Renditenfrage. Der grössere Mut aber ist der Mut zu Korrekturen.
Was der geschützt wähnende Bewohner der Städte neu empfindet, ist eine Angst vor Naturgewalten. Er entdeckt, belehrt durch Naturkatastrophen, dass es ausserhalb seiner Vorstellung weit mächtigere Kräfte gibt, unbeherrschbar durch menschliche Finesse. Noch glaubt die Mehrheit, diese durch Massnahmen ins Gleichgewicht zurückholen zu können und sehen nicht, dass es bereits zu spät ist. Die natürlichen Gesetze kann keiner steuern. Denn der Mensch hat keine göttlichen, übernatürlichen Kräfte und die natürlichen Reserven sind verbraucht und künstlich kaum zu ersetzen. Durch neue Kreationen wird nur ein neues Manko geschaffen und der Homo sapiens rennt hinterher. Was der Mensch kann, wäre sich auf die kommenden Veränderungen vorzubereiten. Doch wenn man den unaufhaltsamen Untergang von Venedig als Beispiel betrachtet mit der Verschleppung der Rettung durch bekannte Korruption, kommen dem Ehrlichen grosse Zweifel an der Vernunft des Homo sapiens. Und selig, wer noch den Glauben an diese Vernunft nicht verloren hat. Er darf den Mut nicht aufgeben und sollte handeln wie die Kinder.
Heinz Waser
Seengen, den 22. 02. 2021